Ich krieg die Krise
Wie können Heranwachsende und ihre erwachsenen Begleiter entspannter durch die meist spannungsgeladene Zeit der Pubertät kommen? Was genau passiert in diesem verwirrenden Lebensabschnitt, zwischen grobgerechnet dem 12. und 24. Lebensjahr im Gehirn? Mit diesem Thema befassen sich Neurobiologen seit Jahrzehnten. Letztens las ich in diesem Zusammenhang ein erstklassiges Buch. Es hat mich aufgeweckt, neugierig gemacht und so weit gebracht, dass ich beschloss ein Statement über die überaus spannenden Inhalte zu verfassen.
Es geht um das praxisbezogene Werk „Aufruhr im Kopf“ von Daniel J. Siegel (Kinder- u. Jugendpsychiater, Professor der Psychiatrie am Zentrum für Kultur, Gehirn und Entwicklung und Leiter des Mindful Awareness Research Center der University of California (UCLA)). Er beschreibt auf anschauliche Art und Weise, wie ein Zusammenleben zwischen Heranwachsenden und erwachsenen Begleitern als weniger anstrengend erlebt werden kann und wie hilfreich dabei das Wissen über die Vorgänge im Gehirn ist. Mit Praxisbeispielen und „Mindsight-Werkzeugen“ (Übungen zur Schulung des Geistes und zur Steigerung der Flexibilität des Gehirns und der inneren Widerstandsfähigkeit) gibt er lebensnahe Orientierung für ein gutes Miteinander.
Der Fokus des Buches liegt auf den positiven Aspekten dieser herausfordernden Lebensphase. Siegel präsentiert Erklärungsmodelle und Potentialentfaltungsmöglichkeiten, sowohl für Heranwachsende, als auch für Erwachsene. Er beschreibt die Adoleszenz als die Zeitspanne im Leben, in der sich Veränderungen im Gehirn abspielen, welche sowohl Risiken als auch Chancen darstellen. Es bilden sich entscheidende Charakterzüge heraus, die für ein erfülltes Erwachsenenleben benötigt werden. Das Gehirn ist im Umbau! Interessant sind die Forschungsergebnisse der Vorgänge in den neuronalen Schaltkreisen in dieser Zeitspanne. Sie ergaben beispielsweise, dass während der Pubertät eine verstärkte Aktivität der neuronalen Schaltkreise die Dopamin verwenden, stattfindet. Doch was bedeutet das genau? Unser Gehirn ist eine Ansammlung von Zellen, die über sogenannte Neurotransmitter miteinander kommunizieren. Dopamin, ist so ein Neurotransmitter. Er spielt eine entscheidende Rolle bei der Suche nach Belohnung. Es ergibt sich folgendes Bild: derDopaminspiegel bei Jugendlichen zeigt sich, erstaunlicherweise, generell erniedrigt. Erleben sie allerdings etwas Spannendes, werden überdurchschnittliche Mengen an Dopamin ausgestoßen. Dies erklärt z. B. beobachtbare, unter anderem anstrengende und gesundheitsgefährdende Phänomene wie, eine erhöhte Risikobereitschaft, die verstärkte Suche nach dem Kick, Anfälligkeit für Süchte, oft kaum aushaltbare Langeweile, Impulsivität oder das Betrachten von Fakten ohne das Gesamtbild erfassen zu können.
Alles gut und recht, werden Erwachsene nun sagen, aber allein über bestimmte Vorgänge im Gehirn Bescheid zu wissen, hilft uns wenig im täglichen Umgang mit unerwartet heftigen Reaktionen und unkontrollierten Verhaltensweisen unserer Pubertierenden. Das stimmt teilweise tatsächlich. Doch sind Erklärungen und das Wissen um bestimmte Vorgänge die Voraussetzung, um Verhaltensmuster in eine Richtung lenken zu können. Und so anstrengend es auch klingen mag, wir sind die Erwachsenen und dürfen uns von der Vorstellung der „perfekten Eltern oder Begleiter“ verabschieden. Denn die gibt es schlichtweg einfach nicht. Sich das einzugestehen, macht einen ehrlichen Umgang mit sich selbst und unseren Heranwachsenden erst möglich. Die zweite Erkenntnis, um in dieser spannungsgeladenen Zeit den Kontakt halten zu können, besteht in der Fähigkeit, authentisch kommunizieren zu können. Selbstreflexionsfähigkeit, Verständnis und tonnenweise Geduld sind ebenso gefragt, um nicht ideale Muster überwinden zu können. Und das Beste kommt zum Schluss: es ist nie zu spät für Kurskorrekturen.
Gründe genug, um dieses Buch zu lesen und sich „Mindsight-Werkzeuge“ anzueignen. Sie bieten Möglichkeiten, sich selbst besser kennen zu lernen, das Empathievermögen zu schulen und neue Reaktionsmuster zu aktivieren. Lernen erfordert bekanntlich Neugier, Wiederholung und Durchhaltevermögen. Doch es zahlt sich aus, Zeit mit uns selbst zu verbringen und in uns selbst zu investieren. In Zeiten wie diesen, mehr denn je! Für unsere eigene Gesundheit und für ein gesünderes Miteinander der Generationen. In neuen Sichtweisen liegt Veränderung. Und unsere Gesellschaft strebt nach Veränderung. Veränderung in Richtung friedlichem Zusammenleben und Gemeinschaft. In diesem Sinne, viel Spaß beim Lesen und Aneignen der Mindsight-Werkzeuge.
Verena Schaiter
(Mitarbeiterin Zentrum Mensch)
Buchtipp:
Daniel J. Siegel, „Aufruhr im Kopf“ „Was während der Pubertät im Gehirn unserer Kinder passiert“, Verlag Mvg, 2015