Ich krieg die Krise

Sonntagnacht, halb zwei. Ich wache auf, tausend Worte, Sätze, Gesprächsfetzen jagen durch meinen Kopf. Ein rasendes „Gedanken-Karussell“, unaufhaltbar. Gefangen im Chaos, kein Ausweg in Sicht. Ich will schlafen, spüre die Müdigkeit meines Körpers, doch mein Gehirn ist in Aufruhr. Die Stille im Außen lässt mein inneres Durcheinander bedrohlich erscheinen. Ich quäle mich durch die nicht enden wollende Nacht.

Montagmorgen. Schlaftrunken starte ich in den Tag. Noch immer begleitet von der Unruhe der Nacht. Ich fühle mich wie gerädert, unsicher, haltlos. Gedanken der Nacht verfolgen mich. Wie betäubt, müde und gereizt versuche ich den Tag zu bewältigen.

 

 Situationen wie diese wiedererkannt? Wir alle können von Gefühlen, Gedanken, Emotionen und oder unkontrollierbaren Körperreaktionen überwältigt werden.

Die gute Nachricht: Dies muss nicht so bleiben! Wir müssen nicht allein mit unseren Emotionen und Reaktionen bleiben, „das aushalten“ und hoffen, dass es wieder „geht“.  

 Der erste Schritt, um dem Strudel der Gefühle zu entkommen liegt im Erkennen, dass sich ein Strudel anzubahnen droht. Es geht also darum, Körperempfindungen rechtzeitig wahrzunehmen und sich individuell wirksame Reaktionsmöglichkeiten anzueignen. Allein das Erkennen einer sich anbahnenden „Welle“ lässt uns handlungsfähig werden. Für uns alle ist es hilfreich, uns für Situationen, wie oben beschrieben oder andere unerwartete Ereignisse oder Stresssituationen einen „inneren Erste-Hilfe-Koffer“ anzulegen. Dr. Peter Levin (Entwickler der Methode Somatic Experiencing®) spricht in diesem Zusammenhang, vom sogenannten „felt sense“. Dem ganzheitlichen inneren Empfinden, dem körperlichen Gewahrsein einer Situation, eines Ereignisses oder einer Person. Mit gezielten Orientierungs- und Wahrnehmungsübungen, können Selbstwahrnehmung und eigene Körperempfindungen geschult werden. Das Erspüren der äußeren und inneren Befindlichkeit ermöglicht es, alte Muster zu unterbrechen und neue Ressourcen auf zu bauen. Dies bedeutet für den Alltag, anders oder neu reagieren und die Perspektive wechseln zu können. Ein Wechsel vom „ich KANN NICHT“ zum „ich KANN“ wird möglich.

 Ein nächster entscheidender Schritt in Richtung „Rettung aus der Krise“ besteht darin, sich einem Gegenüber mitzuteilen. Allein das (Mit-)Teilen unserer Befindlichkeit, löst Veränderung in uns aus. Reaktionen eines Gegenübers können innere Suchprozesse in Gang setzen und es wird möglich neue Wege zu erkennen.

Gibt es in deinem Umfeld niemanden, mit dem du deine Befindlichkeit teilen kannst oder magst, dann gibt es Hilfe im Außen. Fachleute eignen sich in steter Neugier, Wissen über neue Interventions- und Präventionsmöglichkeiten an, um Menschen so viel Unterstützung wie möglich anbieten zu können.

Wegweiser für akute Situationen:

  1. STOP, setzt dir ein klares Stop-Zeichen (schaff dir dein inneres Bild eines Stop-Zeichens), mach eine Pause, halte Inne.
  2. BODENKONTAKT herstellen: setz oder stell dich so hin, dass deine Beine gut mit dem Boden in Kontakt sind. Nimm dir ein paar Minuten Zeit und versuch vor deinem inneren Auge beide Füße im Boden zu verankern.
  3. ORIENTIERUNG: schau um dich, such gezielt nach einen Gegenstand, eine Farbe, einem Objekt, einer Form, einem Muster, das in dir ein Gefühl von Ruhe, Freude, Entspannung, Leichtigkeit… auslöst.
  4. BEWEGUNG: bring langsam Bewegung in deinen Körper. Stell dich aufrecht hin, achte darauf, dass deine Beine hüftbreit auf dem Boden stehen, lenke dein Bewusstsein auf den Atem, schwinge nun beim Einatmen leicht nach vorne, beim Ausatmen wieder zurück. Wiederhole diese Bewegung, bis es sich natürlich anfühlt.
  5. ORIENTIERUNG: Such nun wieder nach dem Objekt, Farbe, Muster o. ä. das du vorher als Ankerpunkt ausgewählt hast und schau dich weiter in deiner Umgebung um.
  6. WAHRNEHMEN UND HANDELN: wie nimmst du dich und deine Umgebung jetzt wahr? Entschließe dich bewusst zu deinem nächsten Schritt (z. B. ich rufe meine Freundin an, ich teile mich einer vertrauten Person mit, ich suche mir Hilfe im Außen, ich mache einen Spaziergang, ich schreibe meine Gedanken auf, ich geh nach Hause, um zu schlafen, weil ich müde bin…).

Das Wahrnehmen und Benennen können von Emotionen, Gefühlen und Körpersignalen, ermächtigt uns, rechtzeitig zu handeln. Je früher wir also die Signale unseres Körpers erkennen, desto befreiter werden wir durch unser Leben gehen. Unterstützung suchen und annehmen bedeutet, verstrickten Krisensituationen entkommen zu können. Eine professionelle Begleitung kann oftmals komplex ablaufende Muster in uns aufdecken, bedeutsame Veränderungen innerer Prozesse auslösen und in uns schlummernde Potentiale wecken. So wird Krisenbewältigung möglich. Nehmen wir uns und unsere Empfindungen also ernst, denn Krisen gehören zu unserem Leben und Krisenbewältigung auch.

 

Verena Schaiter
Mitarbeiterin Zentrum Mensch