Der Sprung in der Schüssel

Es war einmal eine alte chinesische Frau, die zwei große Schüsseln hatte, die von den Enden einer Stange hingen, die sie über ihren Schultern trug. Eine der Schüsseln hatte einen Sprung, während die andere makellos war und stets eine volle Portion Wasser fasste. Am Ende der langen Wanderung vom Fluss zum Haus der alten Frau war die andere Schüssel jedoch immer nur noch halb voll.

Zwei Jahre lang geschah dies täglich: die alte Frau brachte Immer nur anderthalb Schüsseln Wasser mit nach Hause. Die makellose Schüssel war natürlich sehr stolz auf ihre Leistung, aber die arme Schüssel mit dem Sprung schämte sich wegen ihres Makels und war betrübt, dass sie nur die Hälfte dessen verrichten konnte, wofür sie gemacht worden war.

Nach zwei Jahren, die ihr wie ein endloses Versagen vorkamen, sprach die Schüssel zu der alten Frau: „Ich schäme mich so wegen meines Sprungs, aus dem den ganzen Weg zu deinem Haus immer Wasser läuft." Die alte Frau lächelte. „Ist dir aufgefallen, dass auf deiner Seite des Weges Blumen blühen, aber auf der Seite der anderen Schüssel nicht?" „Ich habe auf deiner Seite des Pfades Blumensamen gesät, weil ich mir deines Fehlers bewusst war. Nun gießt du sie jeden Tag, wenn wir nach Hause laufen. Zwei Jahre lang konnte ich diese wunderschönen Blumen pflücken und den Tisch damit schmücken. Wenn du nicht genauso wärst, wie du bist, würde diese Schönheit nicht existieren und unser Haus beehren."

 

Perfektion, wohin das Auge reicht, v.a. in diversen Medien werden uns makellose glückliche Menschen gezeigt, die ein unbeschwertes Leben voller Leichtigkeit und ohne Sorgen genießen.

Wie schaffe ich es bloß diesen gesellschaftlichen Normen und Erwartungen gerecht zu werden? Muss ich denn wirklich ein perfektes, fehlerfreies Leben führen? Was ist ein Perfektionist?

Charakteristisch für einen Perfektionisten sind hohe Standards, Ansprüche und Ziele an sich selbst. Hinter Perfektionismus steht häufig eine große Versagensangst sowie Befürchtungen zu scheitern und somit vor dem Verlust von Wertschätzung und Ansehen durch Mitmenschen.

Mühsamerweise ist das sehr anstrengend, ständig kontrolliert und perfektionistisch den Alltag mit fehlerfreier Arbeit, organsierter Freizeit und akkuratem Familienleben zu händeln. An dieser Stelle brauch es manchmal nur kleine Auslöser von Innen oder Außen und die ‚perfekte Fassade‘ beginnt zu bröckeln, der Perfektionist wird destabilisiert und verfällt in eine Lebenskrise oder möglicherweise in eine psychische Erkrankung. Gerne wird das Phänomen als ‚Burnout‘ beschrieben oder wie ich es fachlich benenne als ‚Erschöpfungsdepression‘.

Aus psychologischer Sicht hat der Perfektionsmusdrang mit einem unsicheren Selbstwert zu tun. Daher sollte er sich überlegen, woher sein hoher Leistungsanspruch kommt. Weshalb er diesen braucht und welche Fehlerkultur er bisher gepflegt hat.

Mithilfe einer Therapie kann es sinnvoll sein, noch weiteren Fragestellungen auf den Grund zu gehen, um sein bisheriges, ‚perfektes‘ Leben zu überprüfen, zu reflektieren und ggf. zu verändern.

Schlussendlich geht es doch ums glücklich und zufrieden sein und nicht um Perfektion.

Wäre es nicht erleichternd zu wissen, dass wir nicht perfekt sein müssen, keinen Erwartungen entsprechen müssen, dass wir über unsere Schwächen und Fehler schmunzeln können, die bunten Seiten des Lebens kreativ gestalten dürfen und in manchen Momenten ‚verrückt‘ sein können?

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen ‚Sprung in der Schüssel‘, um die wertvollen Seiten des Lebens genussvoll zu erkennen und zu erleben.